Evangelisches Diakonissenhaus Bethlehem

Predigten

Wochenschlussandacht am 23. Juni 2012

Pfarrer Theo Freyer, Karlsruhe

Lukas 15, 11 – 32


Dieses Gleichnis trägt in vielen Bibelausgaben die Überschrift „Vom verlorenen Sohn“. Doch diese Inhaltsangabe greift zu kurz. Zuerst ist da der Vater, und der hat zwei Söhne, – nicht nur einen, der fremdgeht. Das will bedacht sein. Andernfalls hören wir nur die halbe Wahrheit.

Die Geschichte vom Auszug und der Heimkehr des verlorenen Sohnes kennen wir gut. Und der gnädige und freudige Empfang, den der Vater seinem Sohn bereitet hat, sagt uns, wie Gott zu uns steht, und dass bei Gott immer eine offene Tür für uns da ist. Wie aber stehen wir zu dem älteren Sohn und Bruder? Ist seine Empörung nicht doch sehr verständlich? Und ganz direkt gefragt: Haben wir vielleicht sogar sehr viel mehr Ähnlichkeit mit dem Daheimgebliebenen, denn so heruntergekommen wie der  Jüngere sind wir doch gar nicht?

Wir bemühen uns tüchtig, anständig, verlässlich und fromm zu sein und ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen, – wenn auch mit mancherlei Versagen und Schuld durchsetzt. Da muss es doch einen Unterschied geben zwischen gut und böse, zwischen Moral und Unmoral, auch zwischen Kirchentreuen und Kirchenfernen, zwischen Kerngemeinde und Randsiedlern, zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einerseits und denen, die nur noch auf Karteikarten präsent sind, andererseits.

Mag sein, dass wir auch kritische Fragen an den daheim gebliebenen Sohn richten wollen. Weiß er nicht, wie schnell man selbst fallen und schuldig werden kann? Hat er das an sich selbst nicht auch schon erlebt? Und wenn er sich seiner eigenen Grenzen bewusst ist, darf er dann so hartherzig sein?

Das Gleichnis verschweigt, ob der verärgerte Bruder dem Fest endgültig fern blieb, oder ob er seinen Groll überwinden konnte und schließlich zum Mitfeiern bereit war. Beide Möglichkeiten sind denkbar. Ich stelle mir vor, er konnte nicht so leicht über seinen Schatten springen. Aber der Vater wollte doch auch ihn nicht verlieren, – ihn, der sich in Selbstgerechtigkeit verloren hatte, und darum – so male ich mir das aus – legte er ihm den Arm um die Schulter, ging mit ihm ein paar Schritte weg vom Haus und setzte sich unter die Tamariske im Hof, um in Ruhe mit ihm reden zu können.

Da wird zunächst noch einmal der ganze Zorn des Bruders zum Vorschein gekommen sein. Er wird dem Vater vorgerechnet haben, welchen Vermögensanteil der andere verschleudert hat, wie mühsam sie Tag für Tag für das tägliche Brot und den Familienbesitz arbeiten müssen, und dass man über ein derartiges Vergehen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann, geschweige denn für diesen Nichtsnutz ein derartiges Fest feiern, wo er doch viel eher verdient hätte, dass er von Haus und Hof verjagt wird.

Der Vater wird sich das alles angehört haben. Ihn hatte es ja auch zutiefst geschmerzt, dass sein Sohn derart in die Irre gegangen war. Aber nicht weniger schmerzte ihn nun der Zorn und die Härte des älteren Sohnes, und so versuchte er, gegen dessen Hartherzigkeit anzureden:

„Hör zu, ich verstehe ja, dass du das Handeln deines Bruders verurteilst, und dass dir das Geld Leid tut, das er verschleudert hat. Aber sollte er selbst dir nicht vielmehr Leid tun? Sei doch froh und dankbar, dass du dem Wahn vom besseren Leben in der Fremde nicht zum Opfer gefallen bist, und dass du dich nicht so verirrt hast wie dein Bruder. Begreife doch, wie gut du dran bist. Du hast das tägliche Brot und deine Arbeit, die dich ausfüllt, und die ihren Ertrag bringt. Du hast nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern ein Daheim, wo man dich liebt und versteht und dich nicht allein lässt, wenn du einen Menschen brauchst.
Gönne es darum deinem Bruder, der sich so schrecklich verirrt hatte, dass ich ihn immer noch und trotz allem, was geschehen ist, herzlich liebe und ihm seine Irrwege vergebe. Hilf doch mit, ihm einen Neuanfang zu ermöglichen. Er soll es spüren, dass er von uns angenommen ist und nach wie vor zu unserer Familie gehört, und dass in unserem Haus nicht ein harter Richtgeist, sondern der Geist der Liebe herrscht. Nicht ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’ soll unsere Regel sein. Was uns verbindet ist die Liebe, die den andern nicht aufgibt, abschreibt oder verstößt.
Die Lektion war bitter genug, die dein Bruder in der Schule des Lebens lernen musste. Das kann ihm helfen, künftig ganz anders zu denken und zu handeln. Aber dazu braucht er unsere Begleitung. Und ganz grundsätzlich: ist ein Mitmensch, ja der eigene Bruder nicht eine Aufgabe fürs ganze Leben, weshalb man ihn nie fallen lassen darf?“

Ich stelle mir vor, der ältere Bruder hatte noch mancherlei Einwände und widersprach dem Vater in diesem und jenem Punkt. Aber der Vater wurde es nicht müde, den zornigen Sohn zu besänftigen, und schließlich ging dieser, immer noch halb widerwillig, mit ins Haus, wo ein fröhliches Fest in vollem Gang war.

Dann standen sich die beiden Brüder gegenüber. Langsam, nur zögernd fanden sich ihre Hände. Und der Ältere sagte: „Lass uns versuchen, einander zu verstehen. Leicht wird es mir nicht fallen. Aber vielleicht schaffen wir es, künftig sensibler füreinander zu sein, bereit zum offenen Gespräch. Vielleicht gelingt uns bei aller Unterschiedlichkeit im Wesen, im Lebensstil und in der Frömmigkeit so etwas wie Brüderlichkeit.“

Da atmete der jüngere Bruder auf und sagte: „Danke. Ich will versuchen, auch für dich mit der Zeit wieder vertrauenswürdig und liebenswert zu werden.“ –

Das Fest ging weiter, und das Leben ging weiter, und weil das Gleichnis ein Bild vom Leben des Volkes Gottes zu allen Zeiten und an allen Orten ist, ist die Geschichte vom Vater und seinen beiden Söhnen auch unsere Geschichte. Irrtümer und daraus resultierende Irrwege und verlässliche Treue, Schuld und Gehorsam, Richtgeist und Vergebung, Ablehnung und Annahme, – davon ist auch unser Leben und Zusammenleben geprägt. Und ich denke, dass eine zum Gottesdienst versammelte Gemeinde gut daran tut, sich nicht nur über die Liebe zu freuen, mit der der verlorene Sohn von seinem Vater empfangen und aufgenommen wurde, sondern auch über den älteren Bruder und seine Verhaltensweise nachzudenken. Ich meine, wir haben allerlei Ähnlichkeit mit ihm. Aber da prüfe jede und jeder sich selbst.

Tatsache ist, dass kein Mensch in unserem Umfeld lebt, den Gott nicht liebt. In der Theorie ist uns das vielleicht klar; aber im konkreten Fall meinen wir, Gott müsse Lieblingskinder haben, und daneben seien jene, die diese Liebe weniger oder gar nicht verdient haben. Daraus leiten wir für uns das Recht zum Urteilen und Verurteilen ab. Und da sind wir gar nicht zögerlich, obwohl wir in der Regel von den Menschen, über die wir zu Gericht sitzen, viel zu wenig wissen, oder uns zu wenig bemüht haben, sie zu verstehen.

Der jüngere Sohn ist zu Hause gewiss nicht mit dem Vorsatz weggelaufen: jetzt will ich schlecht sein, drauflos sündigen, herunterkommen, mein Leben ruinieren. Nein, er wollte das lohnende Leben finden, das er daheim nicht zu finden meinte. Vielleicht hatte er seinem Bruder manches Mal von seinen Träumen vom Leben in der Fremde mit leuchtenden Augen und voller Begeisterung erzählt und gehofft, von ihm ein wenig verstanden zu werden. Aber dann spürte er, dass der ihn gar nicht ernst nahm, seine Sehnsucht nicht verstehen, geschweige denn nachempfinden konnte und ihm allenfalls Moralpredigten hielt. Darum musste er allein entscheiden und versuchen, seinen Lebenshunger zu stillen.

Wie aufgeschlossen und sensibel sind wir für unsere Mitmenschen? Wie viel Mühe machen wir uns, einen Menschen zu verstehen, bevor wir über ihn urteilen? Gibt es so etwas wie Geschwisterlichkeit unter uns? Werden wir nachdenklich, bevor wir Gegenpositionen beziehen? Ein mexikanisches Sprichwort sagt, man solle erst einen Monat lang in den Mokassins eines Menschen gegangen sein, bevor man meint, ihn verstehen zu können. Könnte das für uns ein Hinweis sein, eine Regel für uns treu daheim gebliebenen älteren Söhne und Töchter?

Warum trennen sich Eheleute? Warum verfeinden sich Nachbarn und Kollegen? Warum tritt jemand aus der Kirche aus? Doch nicht aus Freude an Trennung und Streit, sondern weil Enttäuschung und Entfremdung sich breit gemacht haben, weil das Leben leer und langweilig geworden ist, weil Hoffnungen sich nicht erfüllt haben, weil Lebensentwürfe durchkreuzt wurden, weil entscheidende Fragen unbeantwortet blieben. Da ist doch jede Menge Leiden und Entbehrung mit im Spiel, – von den Mitmenschen, manches Mal von den am nächsten stehenden unbeachtet. Und ist es dann nicht verständlich, wenn einer in der Fremde sucht, was er daheim nicht finden konnte?

Ich glaube, das Gleichnis Jesu will uns nicht nur den barmherzigen Vater zeigen, sondern auch Augen, Ohren und Herzen für unsere Mitmenschen mit ihrer Lebensgeschichte öffnen. Es erinnert uns daran, dass die Liebe Gottes, von der wir immer wieder neu leben dürfen, ein Geschenk ist, das wir an unsere Nächsten weitergeben sollen in Form von Geschwisterlichkeit. Und die besteht aus Zuhören, Verstehen, Ermahnen und Raten, aus Geduld und Feinfühligkeit, aus Verzeihen und Ermutigen, aus Lebens– und Glaubenshilfen und aus treuer Fürbitte, gerade auch für die Menschen, mit denen wir uns schwer tun, die Gott aber nicht weniger liebt als uns.

Dieses gemeinsame geschwisterliche Leben gelingt uns nur, wenn der Geist Christi in uns wohnt. Um ihn wollen wir bitten Tag für Tag, – auch jetzt in dieser Stunde, wenn wir miteinander singen: „O Heiliger Geist kehr bei uns ein…“
Amen.

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