Evangelisches Diakonissenhaus Bethlehem

Predigten

Wochenschlussandacht am 7. Dezember 2013

Pfarrer Wolfgang Scharf, Karlsruhe


Wochenspruch: Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. (Luk. 21, 28)


Liebe Gemeinde!

Menschen zu begegnen, Menschen wahrzunehmen ist etwas sehr Spannendes. So vieles kann die Haltung eines Menschen aussagen ohne dass ein einziges Wort gesprochen wird. Sie alle werden Menschen kennen, die beim Betreten eines Zimmers oder eines Saales im übertragenen Sinne diesen Raum, diesen Saal füllen. Sie strahlen eine ganz besondere Präsenz aus, die unmittelbar wahrgenommen wird.

Nelson Mandela, um den viele Menschen rund um unseren Erdball trauern, war einer dieser Menschen mit einer solchen Präsenz. Er hatte in seinem Leben viel Leid und Demütigung ertragen und erhielt sich über die 27 Jahre seiner Gefangenschaft seinen aufrechten Gang. Die ihn in die Gefangenschaft geschickt hatten, vermochten ihn nicht zu brechen. Und aus dieser Kraft des aufrechten Ganges konnte er nach seiner Freilassung jenen Weg gehen, der ihm viel Anerkennung einbrachte und seinem Land vermutlich einen blutigen Bürgerkrieg ersparte.

Um eine Haltung geht es auch im Wochenspruch, der dem zweiten Adventssonntag zugeordnet ist. Wir haben ihn schon gehört: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“

Ein Kopf kann Bände sprechen. Eben auch ohne Worte. Schüttelt jemand den Kopf, zeigt er Ablehnung. Nickt er, offenbart er Zustimmung. Wiegt einer den Kopf, meldet er Zweifel an.
Schaut einer zu Boden, kann dies signalisieren: Ich bin am Ende, kann nicht mehr. Und ich habe nicht die Kraft mich noch auf einen Blick einzulassen. Auch das ist mir zu anstrengend.
Hebt er aber sein Gesicht und schaut nach vorn, erkennt man Hoffnung in Haltung und Blick.

Wohin sehen wir in der zweiten Adventswoche? Viele Menschen um uns herum – und ich höre es in manchem Gesprächen –: sie schauen auf einen Terminkalender oder den Terminplaner ihrer Smartphones und sehen: alles voller Weihnachtsfeiern und Jahresabschlüsse. Piepsend meldet sich das Gerät mit der „To-do-Liste". Die sicher notwendige, aber zuweilen auch als atemlos machend empfundene Erinnerung daran, was noch bis zum Fest zu erledigen ist, welche Geschenke noch gekauft werden müssen und welche Grüße noch zu schreiben sind.

Wohin geht der Blick vieler Menschen? Nach vorne gerichtet ist der Blick ganz sicher. Das Ziel ist klar: ein gelungenes, fröhliches Weihnachtsfest mit perfektem Ablauf und möglichst wenig Streit. Und genau dieses Ziel setzt enorm unter Druck.

Manchmal frage ich mich, ob wir in dieser Situation noch der bedrängenden Szenarien bedürfen, wie sie das Lukasevangelium beschreibt, um Menschen in Furcht und Schrecken zu versetzen. In unseren Breitengraden ist für viele Menschen dieser Druck mehr als ausreichend, um sie ans Ende ihrer Kräfte zu bringen. Und wie blank die Nerven liegen, das erlebt man als Radfahrer hautnah bei so manchem Autofahrer, der gehetzt und unter sichtlichem Druck seinem Ziel entgegenstrebt. Alles, was die Fahrt behindert, stört und reizt.

Eine Adventszeit ohne diesen Druck? Könnte es so etwas geben? Wie sehr wünschen sich Menschen dies: Erlösung von dieser Hektik, dieser gnadenlosen Anspannung, Erlösung von dem, was Druck macht. Eigentlich will uns die Adventszeit gerade dazu führen: innezuhalten und loszulassen, was uns unter Druck setzt. Auszeiten zu nehmen, damit die Druckzeiten bewältigt werden können. Haltung zu erhalten, um aufrecht stehen und gehen zu können.

Wie Menschen in angespannten Situationen auch reagieren können, konnte ich in den letzten Tagen in einem Bericht über den Orkan und die Sturmflut in Norddeutschland nachlesen. Auf einer Hallig, die mehr und mehr von dem tosenden Wasser bedeckt und bedroht war, wurde von einem Einheimischen berichtet, der die Situation recht ruhig und relativ gelassen erlebte. Im Gegensatz dazu die Reaktion eines Gastes vom Festland, der seiner zunehmenden Beklemmung schon Ausdruck verlieh. Hier der Ausdruck von aufsteigender Angst, dort die Haltung einer Gelassenheit, die um Geborgenheit weiß, weil sie schon erfahren wurde. Eine Haltung, die dem Druck und der anrennenden Gefahr erhobenen Hauptes zu begegnen versteht.

Gewiss, es sind hier die Sicherheiten, die Menschen durch ihre Deichanlagen gebaut haben, die dem Brausen und Wogen des Meeres standhalten. Die Einheimischen wissen: wir sind gesichert. Ihr Blick wird nicht an der anrennenden Flut gehalten, sondern ruhen auf den Deichen, die die Flut aufhalten.

Wohin blicken wir, wenn der Druck steigt und die Angst groß wird? Es ist auch hier gut, wenn wir mit unserem Blick nicht von dem gefangen bleiben, das von außen oder innen auf uns eindringt und uns bedrängt. Der Druck ist da. Die Angst oft auch. Wir müssen sie nicht leugnen, müssen sie nicht verdrängen. Aber der Druck und die Angst, so wir sie spüren, müssen uns nicht im Letzten in unserer Haltung bestimmen.

Ausgerichtet können wir sein auf den, von dem uns Hilfe zukommt. Jesus fordert uns auf: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht." Jesus spricht von der endgültigen Wiederkunft des Menschensohnes. Jesus lässt uns gewissermaßen mit unserem Blick schon über den Horizont hinaus sehen. Was dann gelten wird, hat auch jetzt schon in der Begegnung mit ihm Bedeutung. Mit erhobenem Haupt können wir in die Welt schauen. Und in dieser Haltung können sich Lösungen ergeben – heute schon – die wir nicht entdecken würden, wenn wir uns in uns selbst vergraben. Jesu Zuwendung ereignet sich mitten im Leben. Und sie ermutigt zum Leben. Wir dürfen erfahren, dass wir in unserer jeweiligen Situation von Jesus wahrgenommen und gesehen werden. Das ist dann viel mehr als ein bloßes ermutigendes Wort, etwas wie: „Es wird schon wieder.“

Wie dieser feine und doch so wesentliche Unterschied sich auswirkt, wird in einer Filmsequenz sehr anschaulich. „Ich seh' dir in die Augen, Kleines" ist wohl einer der bekanntesten Sätze der Filmgeschichte. Viele haben den Film „Casablanca" nie gesehen, doch diesen einen Satz, den Humphrey Bogart zu Ingrid Bergman sagt, kennen sie. Interessanterweise existiert dieser Satz nur in der deutschen Übersetzung. Im Original sagt Bogart einen Trinkspruch, der wörtlich übersetzt etwa „Auf dich!" lautet. Möglicherweise war dem Übersetzer dieses Zuprosten einfach zu oberflächlich. Vielleicht wollte er die Situation durch seine freie Übersetzung an Intensität gewinnen lassen. Denn der Blick in die Augen ist echte Begegnung.

Um eine solche echte Begegnung geht es in der Begegnung mit Jesus. Eine Begegnung, die uns verändert. Ich wünsche sie uns – nicht nur in dieser Adventszeit.
Amen.

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