Evangelisches Diakonissenhaus Bethlehem

Predigten

Wochenschlussandacht am 21. April 2007

Pfarrer Theo Freyer, Karlsruhe

Psalm 23


Der 23. Psalm vom guten Hirten ist wohl der bekannteste aller alttestamentlichen Psalmen. Auch wir kennen ihn seit Kindertagen. Doch solche geläufigen Texte stehen in der Gefahr, dass man sie ihres Bekanntheitsgrades wegen zu wenig immer wieder neu meditiert im Blick auf ihre Bedeutung für das eigene Leben. Man kennt sie schon fast zu gut. Wir wollen darum versuchen, dieses alte israelitische Gebet als ein Bekenntnis und als die Lebenserfahrung des Volkes Gottes zu allen Zeiten ein neues Mal aufmerksam zu bedenken und den Zuspruch für unser eigenes Leben zu hören.

Psalm 23 gehört innerhalb des Psalters zur Gruppe der so genannten Davidspsalmen, die jedoch nicht von David selbst gedichtet wurden, sondern in unterschiedlichen Lebenssituationen von verschiedenen Einzelpersonen verfasst wurden.
Niemand weiß genau zu sagen, wann und wo der 23. Psalm entstanden ist. Ich überlege mir darum, wie es zum Beispiel hätte sein können, und möchte sie dazu auf eine Zeitreise mitnehmen.

Kommen sie mit mir in das Reich Babylon ums Jahr 550 v. Chr. Dort leben die deportierten Israeliten schon fast 40 Jahre am Kanal Kebar in der Ebene zwischen Euphrat und Tigris. Ihre Lebensbedingungen als Fremdarbeiter im heidnischen Land sind kärglich.
Die in der Fremde geborenen Kinder und Enkel wissen von der Heimat, vom Land Israel, von Jerusalem und vom Tempel nur aus Erzählungen der Eltern und Großeltern. Die haben ihnen in leuchtenden Farben das verlorene Land und die heilige Stadt geschildert. Sie haben ihnen erzählt von den Gottesdiensten, die sie dort zur Ehre Gottes gefeiert haben, und aus diesen Erzählungen waren das Heimweh und die Sehnsucht nach Israel heraus zu hören.
Auch Hoffnung auf Befreiung und Heimkehr wurde laut, – allerdings von Jahr zu Jahr immer weniger.

Durch solche Erzählungen der Alten bekamen die Kinder und Enkel eine Ahnung von der Geschichte ihres Volkes, vom Auszug aus ägyptischer Sklaverei in den Tagen des Moses. Sie hörten wie Gott sein Volk geleitet hatte, am Tag als Wolke und in der Nacht als Feuersäule. Da hatten ihre Vorfahren Gott als den guten Hirten erlebt, der sein Volk durch die Wüste ins Land der Verheißung führte.

Auch von David war den Kindern und Enkeln erzählt worden. Ihn hatte Gott seinem Volk wie einen guten Hirten zum König gegeben. Gott hatte es gut gemeint mit seinem Volk; aber dieses Volk war Gott untreu geworden und hatte sich zum Götzendienst verleiten lassen.

Propheten hatten im Auftrag Gottes ihre warnende Stimme erhoben, hatten gemahnt und an Gottes Gebote erinnert, – doch vergeblich. Dann kam alles, wie es kommen musste. Die Babylonier fielen ins Land ein, zerstörten Jerusalem und den Tempel und führten einen Teil des Volkes ins Exil. So war Gottes Gericht über sein Volk hereingebrochen.

Nun saßen die Deportierten „an den Wassern zu Babel und weinten, wenn sie an Zion gedachten“. (Ps.137) Anfechtung, Zweifel, Hoffnungslosigkeit nisteten immer mehr in den Herzen. Immer drängender stellte sich die quälende Frage, ob Gott sein Volk für immer verstoßen habe, – Gott, der sich doch seit den Tagen Abrahams als der gute Hirte in glücklichen und schweren Zeiten erwiesen hatte?

Manche hatten die Hoffnung ganz aufgegeben und sich dem fremden Land und seinen Menschen kulturell und religiös angepasst.

Doch dann war eines Tages ein Prophet aufgetreten, der eine Hoffnungsbotschaft verkündigte: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.“ So hatte er gesagt. „Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist.“
Das waren ganz neue Töne. Was sollte man davon halten? Die Meinungen gingen auseinander, und man diskutierte kontrovers und leidenschaftlich.

All das, so stelle ich mir vor, hörte auch David, einer der jungen Männer im babylonischen Exil. Begeistert hatte er immer zugehört, wenn Eltern und Großeltern von früheren Zeiten erzählten. Besonders gern hörte er die Geschichte vom König David, nach dem er genannt war. Er wollte glauben, dass Gott sein Volk nicht im Stich lässt, – dass der neue Prophet mit seiner ermutigenden Botschaft recht bekommt. David wollte sich mit dem Leben im fremden, heidnischen Land nicht abfinden.

Und in der Tat, nach wenigen Jahren änderten sich die politischen Machtverhältnisse im Vorderen Orient. Die Perser übernahmen die Vormachtstellung, und ihr König Kyros beendete die Gefangenschaft der Israeliten. Die Heimkehr ins Land der Väter war möglich geworden.

Unter den ersten, die sich auf den Weg machten, befand sich auch David – glücklich und voller Hoffnung. Schon immer sang er gerne und spielte dazu auf seiner Laute. Dann hörten ihm die Freunde und Freundinnen zu, und oft stimmten sie in seine Lieder mit ein. Am Kanal Kebar hatte er Lieder der Sehnsucht und des Heimwehs gesungen. Jetzt wollte er jubeln und ein Danklied zur Ehre Gottes anstimmen. Doch dazu fehlten ihm noch die Worte und eine geeignete Weise.

Auf dem weiten und beschwerlichen Weg nach Israel dachte David immer wieder an all das, was ihm seine Familie von den großen Taten Gottes erzählt hatte, an die Geschichten von Abraham, Isaak und Jakob, von Josef und seinen Brüdern, von der Knechtschaft in Ägypten und dem Auszug unter der Führung von Mose und Aaron, von der Einnahme des verheißenen Landes unter Josua, und nicht zuletzt von David, der als Hirtenjunge begonnen hatte, und als König zum Hirten für sein Volk geworden war. All dies ging David durch den Kopf, und wenn sie nach langem Marsch ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten, dann griff er in der Abenddämmerung zur Laute und suchte nach einem Lied für den Gott Israels, der auch jetzt sein Volk nicht verlassen hatte.

Das Bild von Gott, dem guten Hirten, ging David nicht aus dem Sinn. Das war es doch, was sein Volk in der Vergangenheit erlebt hatte und jetzt neu erleben durfte, und fast wie von selbst kamen ihm die Worte in den Sinn:

Der Herr ist mein Hirte!
Mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.

Ja, so ist es zu jeder Zeit, dachte David. Gott steht zu seinem Wort, auf ihn ist Verlass. Auch in den Tiefen und Dunkelheiten des Lebens lässt er uns nicht allein, und in Davids Gedanken formten sich die Verse:

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal fürchte ich kein Unglück,
denn du bist bei mir.
Dein Stecken und Stab trösten mich.

Ach, es war oft zum Fürchten und zum Verzweifeln am Kanal Kebar. Gott schien fern zu sein und zu schweigen. Doch dann war da auf einmal die kaum mehr gehoffte Erfahrung: Du bist bei mir, – bei meinen Gefährten und bei deinem Volk Israel. Neues Leben ist möglich geworden.

Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

Das wollte David fortan nie mehr vergessen. Daran wollte er sich immer wieder erinnern und darauf vertrauen:

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

Auf seine Weggefährten wirkte David in jenen Tagen oft wie geistesabwesend. Er träumte vom Wiederaufbau des Landes, von Jerusalem und einem neuen Tempel, in dem das Lob Gottes aus dankbarem Herzen gesungen wird.
Bald hatte er auch die Weise gefunden, nach der er sein Lied vom guten Hirten singen wollte. Da griff er erneut zur Laute und sang es seinen Freunden vor:

Der Herr ist mein Hirte…

Er sang es ein zweites und ein drittes Mal, und nun stimmten die anderen auch mit ein auf dem Heimweg in das Land der Verheißung:

...Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück,
denn du ist bei mir!
Dein Stecken und Stab trösten mich. –

Soweit meine erdachte Geschichte. –

Seit dem Tag, an dem dieses Lied vom guten Hirten zum ersten Mal irgendwo im Umfeld Israels gebetet und gesungen wurde, haben in Jahrhunderten und Jahrtausenden Millionen von Menschen ihre Hoffnungen, ihr Lebensglück und ihre tiefste Not mit diesen Worten vor Gott gebracht. Die Vielzahl von Lebenssituationen, in denen dieser Psalm schon gebetet wurde, ist nicht auszudenken. Könnte man sie sammeln und niederschreiben, entstünde eine umfangreiche Bibliothek.

In der langen Leidensgeschichte des Volkes Israel von der Vernichtung des Staates einst durch die Römer über die grausamen Pogrome des Mittelalters und die Gaskammern von Auschwitz und Maidanek bis hin zum Existenzkampf des heutigen Staates Israel, hat dieser Psalm immer wieder zu den Gebeten einzelner und der Gemeinden gehört.

Auch Jesus hatte diesen Psalm gekannt und gebetet. Und nachdem er seine Sendung mit dem Bild vom guten Hirten verbunden hatte, betete auch die Christenheit von den ersten Tagen an bis zur Stunde mit diesen Worten im Vertrauen auf Jesu Zusage: „Ich bin der gute Hirte… Meine Schafe hören meine Stimme… und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“ (Joh.10)

Das alles will bedacht sein, wenn wir heute den 23. Psalm beten. Hinter diesen Worten steht die Lebens– und Glaubenserfahrung des Volks Gottes in Jahrtausenden. Und es handelt sich nicht um das Lied eines Tagträumers, der die Bodenhaftung verloren hat. Um es im Bild zu sagen: Das einzelne Schaf in der Herde des guten Hirten darf sein Vertrauen aus der langen Erlebniskette aller Herdengenerationen schöpfen: ob Not oder Fülle herrscht, der Bedarf wird gedeckt. Aus dem finsteren Tal führt ein Weg heraus. Angst verliert ihren Grund. Verirrung ist korrigierbar.

Solcher Glaube ist nicht immer leicht. Gott weiß es. Die glaubensmäßige Zugehörigkeit zu einer Minderheit bringt Zweifel und Anfechtungen mit sich. Schicksalsschläge lassen an der Liebe Gottes, an der Fürsorge des guten Hirten, zweifeln. Irrwege und Schuld stellen vor die Frage, ob auch für schwarze Schafe wirklich Platz in der Herde des guten Hirten ist? Und führt uns der gute Hirte schließlich auch durch die Todesstunde hindurch?
In der Tat, solcher Glaube ist nicht immer leicht. Doch das ermutigende Wort Jesu zu Simon Petrus gilt auch uns: „Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.“

Und der vieltausendstimmige Chor aus den Kindern Israels und der Christenheit ruft uns in das Vertrauen: Wir sind nicht allein gelassen. Unser Leben ist eine Geschichte mit Gott. Jesus Christus will auch unser guter Hirte sein, der das Verlorene sucht. Ihm dürfen wir an den Sonnentagen des Lebens unsere Freude und unser Glück sagen und in den Nächten und Tiefen alle Angst und Qual. Mit seinem Wort und Geist will er uns über die grünen Auen leiten, und in den Wüsten unseres Lebens hat er zur rechten Zeit für uns eine Oase bereit.
Und ganz zuletzt wird Gott abwischen alle Tränen von unseren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein und alles Erdenleid wird ein Ende haben.

Manchmal scheint es unglaublich. Da wissen wir nicht weiter und die Zweifel machen uns Angst. Da sehen wir nicht über die beängstigenden Berge hinweg, die sich vor uns auftürmen. Aber die Wolke der Zeugen ruft es uns über Jahrhunderte und Jahrtausende unentwegt zu: Stimmt ein in das Lied des Glaubens:

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln…
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück,
denn du ist bei mir!

Amen.

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