Evangelisches Diakonissenhaus Bethlehem

Predigten

Woschenschlussandacht am 5. September 2009

Pfarrer Theo Freyer, Karlsruhe


Wochenspruch: Christus spricht: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matth. 25, 40)

Lukas 10, 25 – 37

Vom barmherzigen Samariter


Dieses Gleichnis gehört zu jenen biblischen Texten, die wir seit den Tagen im Religionsunterricht kennen. Gibt es da noch Neues zu hören, oder brauchen wir diesen Text als notwendige Erinnerung für unseren Alltag? Wir tun doch schon immer wieder allerlei Gutes. Soll ich also Amen sagen, und wir gehen zufrieden nach Hause? Das wäre nicht gut, denn letztlich wissen wir alle, dass wir mit diesem wenn auch altbekannten Text noch längst nicht fertig sind, – einem Text, der uns fordert, und der es mit dem Gelingen oder Versagen, mit Reichtum oder Armut unseres Lebens zu tun hat.

Lassen sie mich zunächst eine Geschichte erzählen, die ich vor einiger Zeit fand, und die es – wie ich meine – auch mit einem barmherzigen Samariter zu tun hat, – mit einem, der in unseren Tagen gelebt hat oder vielleicht auch noch lebt. Sie ist überschrieben „Zwei Plätze blieben leer.“

Solange ich mit dem ‚4’ fahre, ist der Bus um diese Zeit überfüllt, und keiner der Fahrgäste, die im Gang zusammengedrängt stehen, rührt sich von der Stelle, wenn der Schaffner ruft: „Bitte nach vorn gehen!“
Gestern Abend aber kam plötzlich Bewegung in diese lange Doppelreihe. Alles drängte nach vorn und machte Platz. Zwei Mädchen hatten es so eilig, dass sie ihren Vordermann direkt vor sich her schoben. Und da sehe ich auch schon, warum sie alle Platz machen. Am Astoria ist ein Mann zugestiegen, der ein furchtbar entstelltes Gesicht hat. Brandwunden oder eine Hautkrankheit könnten die Ursache gewesen sein. Niemand mag genau hinsehen, alle weichen einfach vor ihm aus. So steht der Mann allein in der Mitte des Gangs. Er hat keinen Vorder- und keinen Hintermann, während sich einige Schritte vor ihm und hinter ihm die Fahrgäste zusammenballen wir Trauben.
Jetzt merken das auch die Leute, die rechts und links von seinem Stehplatz sitzen. Und kaum dass sie zu ihm aufgeschaut haben, sind sie auch schon von ihren Plätzen weg.
Der entstellte Mann setzt sich nicht, obwohl er zwei Sitzplätze zur Auswahl hat. Er weiß genau, dass dann auch sein Nebenmann sofort den Platz räumen wird. Wie oft mag er es schon ertragen haben, dass die Leute vor ihm die Flucht ergriffen! Und was muss im Herzen eines solchen Menschen vorgehen?
Doch da geschieht das Unfassbare. Ein Arbeiter, der bislang vorn neben dem Ausgang saß und alles genau beobachten konnte, steht auf und geht zu dem Mann, den alle meiden. Er setzt sich mit ihm, zieht eine Tüte mit Zigarren aus seiner Lederjacke und bietet dem Entstellten eine an. Der hat Not beim Sprechen, weil ihm die Lippen fehlen. Der Arbeiter zieht dann eine Zeitung heraus und zeigt ihm darin etwas. Offenbar einen Witz, denn er lacht selber herzhaft. Dann sehen sie beide miteinander die Zeitung an, Kopf an Kopf.
Drei Haltestellen später steigen die meisten Leute aus, auch der Arbeiter. Da höre ich, wie ihn seine Kollegen fragen, wovon der Mann so entstellt sei. „Was weiß ich?“ sagt der Arbeiter. „Ich habe de Mann heute auch zum ersten Mal gesehen.“ „Na, hör’ mal Otto, du willst doch wohl nicht behaupten, dass du den nicht kennst und dich zu ihm setzt und ihm eine Zigarre gibst, und dass ihr zwei wie alte Kumpels miteinander schnackt, wenn du ihn nicht kennst?“, wendet da einer ein.
Darauf der Arbeiter: „Hast du nicht gesehen, wie sie den armen Kerl schneiden? Versetz dich mal in seine Haut! Was glaubst du, wie der sich gefreut hat, dass mal einer mit ihm redet!“
An diesem Abend wurde mir klar, wie wenig und wie viel dazu gehört, ein „barmherziger Samariter“ zu sein und seinen Mitmenschen ein Bruder oder eine Schwester.

Hätte Jesus diese Episode von der abendlichen Busfahrt erzählt, dann hätte er von den Mitfahrenden wohl gesagt, dass sich einige unter ihnen bewusst Christen nennen, dass sie mehr oder weniger regelmäßig sonntags zum Gottesdienst gehen, um dort immer wieder das Evangelium von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu hören.

Das galt ja auch für den Priester und den Leviten, dass sie sich ganz selbstverständlich zum Volk Gottes zählten, dass sie es mit dem Glauben an Gott ernst meinten und auf keinen Fall schlechte Menschen sein wollten. Doch so oft wir schon lasen, was sich da im Gleichnis an der Straße von Jerusalem hinab nach Jericho abspielte, fanden wir das unbegreiflich. Was mochte in den beiden Männern vorgegangen sein? Die hätten doch wissen müssen, was in jener Situation zu tun war.

Zurück zu den Fahrgästen im Bus, - eine unsensible Gesellschaft. Geht man so mit einem bedauernswerten, vom Schicksal gezeichneten Menschen um? Wie wäre wohl jene Busfahrt verlaufen, wenn wir mitgefahren wären?

Statt einer vorschnellen Antwort erinnern wir uns erst noch einmal daran, was Jesus veranlasst hatte, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu erzählen. Ein Schriftgelehrter wollte von Jesus wissen: „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Und beide waren sich schnell einig, dass Menschenleben in der Liebe zu Gott und zum Nächsten seine Erfüllung findet. So weit, so gut. Doch wie sieht das im alltäglichen Lebensvollzug aus?

Der Schriftgelehrte wollte es ganz genau wissen, und darum fragte er: „Wer ist denn mein Nächster?“ Das musste doch erst einmal geklärt werden, und für uns heute muss das ja auch klar sein. Wer also sind unsere Nächsten?

Familienangehörige – ja. Aber gehört auch noch die ganze bunt gewürfelte Verwandtschaft dazu? Nachbarn wohl auch, aber sicher doch nur die allernäch-sten, und dann auch nur die, die uns in einer Notlage auch helfen würden. Und bei den Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz wird man auch unterscheiden müssen.

Hat man einmal angefangen zu fragen: „Wer ist denn mein Nächster?“, dann nimmt das Fragen kein Ende mehr, und es wird immer schwieriger, die Grenze zu ziehen.

Ob sich unser Arbeitsfeld eingrenzen lässt, wenn wir fragen, wer jeweils zuständig ist? Und da fallen uns auch schon viele Möglichkeiten ein: die jeweils nächsten Angehörigen und Freunde, das Sozialamt, die staatlichen Einrichtungen und Kassen, die Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen, die Kirchen und sonst noch nützliche Adressen, an die sich Menschen und gesellschaftliche Gruppen in Not wenden können.

Wie gut, dass das alles so engmaschig organisiert ist. Wenigstens hierzulande muss niemand durch das weit ausgespannte soziale Netz fallen. Wenn man erst mal weiß, wer im Einzelfall zuständig ist, kann man getrost auf der Straße von Jerusalem hinab nach Jericho seines Weges gehen und denen am Straßenrand beredte Auskunft geben, an wen sie sich in ihrer Lage wenden müssen.

Jesus jedoch ließ sich auf keine Diskussion über Zuständigkeiten ein und erzählte stattdessen die Geschichte eines Helfers, der menschlich gesprochen alles andere als zuständig war. Der unter die Räuber gefallene Jude, war für den Samaritaner aus religiösen Gründen eigentlich ein Feind und auf keinen Fall ein Nächster. Grund genug vorüberzugehen. Doch ausgerechnet er half.

Als Jesus das Gleichnis zu Ende erzählt hatte, fragte er den Schriftgelehrten nicht: Weißt du jetzt, wer dein Nächster ist?, sondern: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Dem mag es nun wie Schuppen von den Augen gefallen sein, als er antwortete: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“  Nun begann er zu begreifen: Die Frage ist nicht „Wer ist denn mein Nächster?“, sondern: Wem kann, wem muss ich zum Nächsten werden? Und darum geschieht Nächstenliebe nie dort, wo die Zuständigkeitsfrage diskutiert wird, sondern da, wo einer die Not des andern wahrnimmt und spontan und bereitwillig mit seinen Mitteln und Fähigkeiten hilft.

Jede und jeder von uns besitzt genügend Fantasie, um sich auszumalen, was sich in unserer Gemeinde, unserer Stadt und unserem Land, in der Kirche und in der Welt mit ihren Nord-Süd- und Ost-Westkonflikten alles zum Guten wenden kann, wenn immer mehr Menschen bereit werden, dort zu Nächsten zu werden, wo sie Not begegnen und Hilferufe hören. Erst dort, wo der Glaube zur Tat wird, ereignet sich glaubwürdiges Christsein, und nur da werden auch hier und heute ermutigende Spuren des Reiches Gottes sichtbar.

Der Schriftgelehrte hatte Jesus gefragt: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Es ging also um nicht mehr und nicht weniger als um ein erfülltes, gelingendes Leben, an dem Gott Wohlgefallen haben kann, und das den Menschen zum Segen gereicht. Fazit: Es geht in allem, was wir jetzt miteinander bedacht haben, um das Gelingen unseres Lebens, das unter einer großen Verheißung steht, denn auch uns gilt die Zusage Gottes an Abraham: „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein!“ Darum bitten wir ihn:

Herr, segne meine Hände,
dass sie behutsam sind, dass sie halten können, ohne zur Fessel zu werden,
dass sie geben können ohne Berechnung,
dass ihnen innewohnt die Kraft, zu trösten und zu segnen.

Herr, segne meine Augen,
dass sie Bedürftigkeit wahrnehmen, dass sie das Unscheinbare
nicht übersehen, dass sie hindurchschauen durch das Vordergründige,
dass andere sich wohlfühlen können unter meinem Blick.

Herr, segne meine Ohren,
dass sie deine Stimme hören, dass sie hellhörig sind
für die Stimme der Not, dass sie sich verschließen für den Lärm
und das Geschwätz, dass sie das Unbequeme nicht überhören.

Herr, segne meinen Mund,
dass er dich bezeugt, dass nichts von ihm ausgeht,
was verletzt und zerstört, dass er heilende Worte spricht,
dass er Anvertrautes bewahrt.

Herr, segne mein Herz,
dass es Wohnstatt ist deinem Geist, dass es Wärme schenkt
und bergen kann, dass es reich ist an Verzeihung,
dass es Leid und Freude teilen kann.

Lass mich dir verfügbar sein, mein Gott,
mit allem, was ich habe und bin. (Sabine Naegeli)

Amen.

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